Wer Freunde, Freizeit und Freude am Leben hat, verbringt den Samstagabend in Gesellschaft und einem Schank- oder Tanzlokal. Wer dagegen für das Forschungsseminar „Quantitative Finance“ ein Referat über ein herrlich spannendes Finanzanlagegewichtungsverfahren vorzubereiten hat, ist ich und ich verbringe den heutigen Samstagabend in meiner schlichten Wohnung und bemühe mich, die fürs Studium der mitreißenden wissenschaftlichen Fachliteratur nötige Motivation zu sammeln.
Ich schalte also den Fernseher ein und versuche, eine meinen Ansprüchen genügende Sendung zu finden. Auf SAT.1 läuft „Mord im Weißen Haus“. Ich gähne. Die Leichen müssen sich dort schon bis unter die Decke stapeln. Beim Wechsel auf ORF 1 aber bin ich plötzlich wie elektrisiert. Vor meinen Augen läuft der Eurovision Song Contest 2007. Jener „Gesangs“wettbewerb, der es fertig bringt, Menschen aus 42 Nationen friedlich vor dem Fernseher zu vereinen, und sei es auch nur in einer Atmosphäre wechselseitiger Scham und Betretenheit gegenüber den Abgründen der nationalen Musikszenerien. Mit einem Mal ergibt alles Sinn, vor allem die Vorausscheidung zum Song Contest, die ich vorgestern bei bzw. anstelle der Vorbereitung meines Referates gesehen habe. Eine bittere Zeit, vor allem für die Schweiz, deren DJ Bobo ausscheiden musste. Insofern sollte dem Kontinent das Schlimmste erspart bleiben. Aber, wie das Leben so spielt …
Vom bosnischen Beitrag bleibt mir nichts in Erinnerung, außer dass mich das Lied gelangweilt hat und dass Rijeka auf Bosnisch „Fluss“ bedeutet, womit mir der Name der gleichnamigen Großstadt plötzlich in einem anderen Licht erscheint. Darauf folgt eine spanische „Boygroup“ mit einem idiotischen Namen und einem Lied, dem ich entnehmen kann, dass Liebe offensichtlich schön ist. Die Beiträge von Weißrussland, Irland, Finnland und Mazedonien versäume ich, weil ich die Küche nach genießbaren Nahrungsmitteln durchsuchen muss. Als ich zurückkomme singt gerade die Ungarin. Sie hat kurze Haar und ein T-Shirt auf dem laut dem Sprecher die Mutter Gottes abgebildet ist. Ihr Lied heißt „Unsubstantial Blues“ und die Bühne ist blau. Stimmig. Die nächsten Teilnehmer sind die Litauer, die sich „4Fun“ nennen und „Love or leave“ intonieren. Bedauerlich, wie langsam sich manche Errungenschaften der westlichen Welt hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang durchsetzen, vor allem eine zeitgemäße Namensgebung. Danach tanzt ein Grieche zu irgendeinem Lied über Maria, soweit ich es verstehe. Mit ihm tanzen vier Griechinnen an blauen Bändern. Showtime! Irgendwie klingt das Lied aber genauso wie das vorhergehende. Oder nicht. Irgendwie klingen ohnehin alle Lieder gleich. Offensichtlich wurden keine neuen Melodien mehr erfunden, seit Modern Talking 1986 „Brother Louie“ herausbrachten.
Die nächste hoffnungsfrohe Teilnehmerin ist eine kleine Georgierin im roten Kleidchen. Wo liegt dieses Georgien überhaupt? Jedenfalls hat ihr der Präsident noch persönlich alles Gute gewunschen. Schweden schickt eine Tokio Hotel Tribute Band ins Rennen. „The Ark“ stützen ihre Kandidatur vor allem auf hypnotische Scheiben, die über die Bildschirme auf der Bühne flimmern. Die Franzosen wirken, als ob ihr Beitrag eine Parodie seiner selbst wäre. Vielleicht ist er das auch – in diesem Fall haben sie keine Chance. Lettland covert die drei Tenöre, Russland versucht wieder einmal, mit seinem großen Angebot an leicht bekleideten Mädchen, denen der Beigeschmack käuflicher Liebe anhaftet, zu punkten. Für Deutschland wirft sich Roger Cicero ins Rennen. Das macht mich traurig. Ich möchte Cicero heißen. Dann kommt Serbien an die Reihe. Was finden die Leute nur an Balladen? Die sind doch viel zu langsam und außerdem fehlt der Beat. Den liefert die Ukraine. Ihr Lied heißt „Russia Goodbye“, was die Russen verärgert hat, bis die ukrainische Band ein Statement veröffentlichte, wonach der wahre Titel „Luscha Gawui“ oder so ähnlich sei und „umgefallene Milchkanne“ bedeute. Ich mag die Ukraine. Unter anderem, weil ihre Vertreter etwas für die Umwelt tun und ihre Kostüme aus wiederaufbereiteter Alufolie schneidern.
Die Briten, die nun folgen, führen dagegen eine überaus aufwändige Show vor. Mit Stewardessen, Koffern und dergleichen mehr. Zumindest sehen die ersten fünf Sekunden danach aus. Dann gehe ich in die Küche und schiebe mir zwei Käsebrote ins Backrohr. Als ich zurückkomme beendet gerade Rumänien seinen Beitrag. Die Gruppe besteht aus lauter Rumänen und einem Typen aus Französisch Guyana. Das macht mich traurig. Ich möchte aus Französisch Guyana kommen. Und Rumänien beim Song Contest vertreten. Vielleicht mach ich das nächstes Jahr, falls es mit der Festanstellung nicht klappt. Das bulgarische Duo trommelt herum und singt etwas vom Wasser, das fließt und da sitzt ein Mädchen und ein Reiter kommt vorbei. Der Türke sieht in seinem roten Sakko aus wie ein Zirkusäffchen. Vorletzter Teilnehmer ist Armenien. Sein Vertreter singt, wie überraschend, eine Ballade. Dafür wurde er aber schon zweimal zum besten Sänger Armeniens gewählt. Armenien ist klein. Den Abschluss bildet Moldawien. Wie können sich die überhaupt die Teilnahme leisten? Die sind doch arm. Irgendwie fühle ich mich plötzlich ein wenig ausgelaugt, emotional wie kreativ. Ich hole meine Brote aus dem Rohr und bereite sie zu – mit Senf, Salat und Paprikapulver. Douze points!
Der interessantere Teil des Abends fängt gerade an. Die Wertung. Die finnischen Moderatoren versuchen, sich beim Countdown gegenseitig in den Hintergrund zu drängen. Ich hasse sie beide, obwohl ich sie gar nicht kenne. Aber ich liebe den griechischen Fan, der mit dem Gesichtsausdruck einer Straßenlaterne die Flagge seines Heimatlandes in die Kamera hält. Zweihundert Euro kostet eine Eintrittskarte. Wer würde hierfür keine Niere opfern?
Die Punktvergabe beginnt. Sie läuft stets nach dem gleichen Schema ab. Die finnischen Moderatoren grinsen dümmlich und der Vertreter der jeweiligen nationalen Rundfunkanstalt redet an ihnen vorbei oder biedert sich vermittels eines Mundvolls geradebrechten Finnischens an. Dann folgen die Punkte. Irgendwie füllt mich das Zusehen alleine nicht aus. Ich beschließe, zu notieren, wer wem die 12 Punkte zuschachert. Immerhin sagt einem das sehr viel über die einzelnen Länder, vor allem wer in Bezug auf wen in der Vergangenheit eine zu lasche Einwanderungspolitik gefahren hat. Dennoch ist die ewiggleiche Prozedur ziemlich ermüdend. Ich fahre meinen Computer hoch und beginne nebenher, nach dem ukranischen Lied von der traurigen Milchkanne zu suchen. Ohne Erfolg.
Von der Punktvergabe selbst bleibt mir nur wenig in Erinnerung. 42 Länder, 42 Lieder, 42 liederliche Landesvertreter. Eine schlechte Allitteration. Weißrussland stellt eine 17-jährige Praktikantin vor die Kamera. Sie ignoriert ihre Kollegen in Helsinki komplett, weil sie ihre englischen Sätze nur auswendig beherrscht. Nach der Übertragung muss sie wieder zu ihrem anderen Arbeitsplatz als Fußschemel für Lukaschenko. Lettland hat Beppo, den Clown engagiert. Er trägt Hosenträger und meint, etwas besonderes läge in der Luft. Ein Souvenir sowjetischer Industriepolitik, Beppo! Die Anblick der isländischen Punktvergeberin ist mit Sicherheit das ästhetische Highlight des Abends. In politischer Hinsicht ist dies das Eingeständnis des israelischen Korrespondenten, dass sein Heimatland nukleare Waffen besitzt – oder wie ist der Satz „Israel has pushed the button!“ sonst zu verstehen? Eine große Überraschung ist Moldawien. Das Land mag arm sein, aber nicht so arm, dass es sich keine Glitzerkrawatte für seinen Sprecher und eine Aufnahme der nächtlichen Skyline einer amerikanischen Großstadt als Hintergrund leisten kann. Eine weniger große Überraschung ist, wer wem wieviele Punkte gibt. Deutschland schickt dem Äffchen 12 zwölf Punkte. Eine flächendeckende Dönerversorgung fordert ihren Tribut. Spanien entsendet ein Dutzend Zähler nach Rumänien, Hauptquelle seiner illegalen Einwanderer. Serbien erhält zwölf Punkt von Montenegro, ein positiver Nebeneffekt der letztjährigen Trennung der beiden Staaten, und die Esten unterstützen das russiche Rotlichtmilieu, trotz oder gerade wegen der Querelen rund um das kürzlich entfernte Rotarmistendenkmal. Ein erfreuliches Zeichen setzt indes die Türkei. Ihre zwölf Punkte gehen an den zweimalig besten Sänger Armeniens; eine späte Reparation für den Völkermord, den sie an seinen Ahnen nicht verübt haben.
Letzten Endes steht der Sieger fest. Serbien. Genau genommen stand der Sieger angeblich schon vorher fest. Serbien. Jedenfalls ist der Sieger Serbien und das Siegerlied sterbenslangweilig. Es wird noch einmal vorgetragen, aber ich entschließe mich, stattdessen „Brother Louie“ von Modern Talking zu hören. Es macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Der ORF entschließt sich, das Niveau konstant zu halten und schickt dem Grand Prix ein Grönemeyer-Konzert hinterher. Meine Augen schließen sich.
Saturday, May 12, 2007
Subscribe to:
Posts (Atom)